SYNOPSIS
In Nordmazedoniens zweitgrößter Stadt Kumanovo baut der Krieg im Nahen Osten die Häuser neu. Zu Tausenden arbeiteten in den letzten 20 Jahren junge Mazedon:innen in den Küchen und Wäschereien auf US-amerikanischen Militärstützpunkten in Afghanistan und im Irak. Als die letzten US-Truppen im Sommer 2021 aus Afghanistan abzogen, kamen viele von ihnen zurück. Sie brachten nicht nur viel schnell verdientes Geld mit, das sie weiter in Immobilien und ausgefallene Business-Konzepte investieren, sondern auch traumatische Erinnerungen, die sie geprägt haben.
Die neuen Häuser gleichen ihren in Stein gemeisselten Träumen. Sie sind Sinnbild der Veränderungen in der Stadt, ökonomischer und sozialer Veränderungen. Der Film „Retreat“ erzählt von Gewinnern und Verlierern der jahrzehntelang andauernden wirtschaftlichen und sozialen Krise des Landes und von einem Riss, der die Gesellschaft spaltet.
Dokumentarfilm, 30 min, 2022, Deutschland
DIRECTOR’S NOTE
In Mazedoniens zweitgrößter Stadt Kumanovo ist in den letzten 20 Jahren ein regelrechter Bau- boom ausgebrochen, und das obwohl es dem Land wirtschaftlich schlecht ging. Vielerorts war zu beobachten, dass das „alte Kumanovo“ allmählich verschwindet und sich ein neues Stadtbild etabliert.
»Es ist der Krieg in Afghanistan, der hier die Häuser baut« kommentierte mein Cousin die Situation. Dieser paradoxe Satz prägte sich mir ein. Plötzlich wurde der Krieg im Mittleren Osten durch die Neubauten in Mazedonien sichtbar. Aber wie kann ein Krieg Häuser bauen?
Während meiner Recherchen erfuhr ich von der großen Bedeutung, die ein Eigenheim auf dem westlichen Balkan einnimmt. Denn “wenn Du kein Haus gebaut hast, hast du nicht gelebt!” zitiert der Protagonist meines Filmes Retreat ein mazedonisches Sprichwort. Doch lässt sich mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 200,- Euro auch in Mazedonien kaum die eigenen Existenz sichern, geschweige denn ein Eigenheim finanzieren, was diese neue
Form der Arbeitsmigration in die Kriegsgebiete des Mittleren Ostens zur Folge hat. So wurde mir klar, dass das was zunächst nach Prosperität aussah, Ausdruck einer Krise ist.
Das neue Stadtbild Kumanovos ist Sinnbild für die politische und gesellschaftliche Krise und die Exzesse der kapitalistischen Kultur: Die Fassaden der Turboarchitekturen, die mit ihren Säulen, Schnörkeln und Verzierungen fast schon obszönen Reichtum nach aussen kehren, wie auch die SUV ́s, die teuren Cafés und Bars der neuen Arbeitsmigranten und auf der anderen Seite die Vernachlässigung des öffentlichen Raumes bis hin zur Verwahrlosung.
Die Vorbilder dieser neuen Architekturen sind in US-amerikanischen oder spanischen Telenove- las zu finden, die die Vorstellung des »guten Lebens« prägen. Symbolisch drückt sich in dieser Architektur die Sehnsucht aus, ein Teil Europas zu sein. Denn die neuen Architekturen wollen mit ihrem Stilmix Modernität und Weltläufigkeit demonstrieren und sind wohl am ehesten mit den Begriffen Turbo-Architektur oder Turbo-Urbanismus zu umschreiben.
Tourbo-Architektur wird als Krisen Architektur oder Architektur zum Ausweg aus einer zurück- liegenden Krise verstanden. Die hauptsächlichen Qualitätsmerkmale der Turbo-Architektur sind Dringlichkeit, der Einfluss des Illegalen und die Geschwindigkeit der Verwirklichung im Stadtraum.« (Srdjan Jovanovic Weiss (2009), »Mehr als eine störende Architektur«. In: Prishtina is everywhere, Turbo-Urbanismus als Resultat einer Krise, S.198).
Nach dem Zusammentreffen mit zwei »Avganistanci« zu Beginn meiner Recherchen, die grad auf Heimaturlaub in Kumanovo waren, lies mich die Frage nicht mehr los: Wie wirkt sich diese neuen Form der Arbeitsmigration auf das soziale und ökonomische Leben vor Ort aus? Ist diese neue Form der Arbeitsmigration sogar ein Indikator sich verändernder Parameter von Arbeit? Und welche Auswirkungen hat dies auf die Wertvorstellungen einer Gesellschaft?
Denn während meiner Recherchen wurde auch klar, dass die Arbeit in den Kriegsgebieten auch ein hohes Risiko birgt an PTSD zu erkranken. Schätzungen sagen voraus, dass bis zu 70 % der Heimkehrer an PTSD leiden. Dies hat laut eines Protagonisten zur Folge, dass sich die mazedonische Gesellschaft bis auf weiters nicht normalisieren wird, da der Alltag auf Jahre hinaus durch diese Kriegserinnerungen geprägt sein wird. Aufgrund der Erkrankung dieser jungen Menschen ist der gesellschaftliche Schaden unermeßlich, da schon jetzt deutlich wird, dass sich dies auch auf die nächsten Generationen auswirkt.
Darüber hinaus möchte ich den Zuschauer:innen die Frage an die Hand geben, was die ökono- mische Krise dort mit den Lebensbedingungen hier, im globalen Norden zu tun hat. Mein neuer Film »Retreat« versucht den beschleunigten Wandel in Mazedonien in einen globalen Kontext einzuordnen.
CAST & CREDITS
CAST
Danica Stanojkovska, Djordje Stanojkovski, Dejan Petkovski, Dr.med Mice Dudučki,
Florim Prestreshi, Suzana Andonovic, Toni Nikolovski, Valentina Krstevska
BUCH UND REGIE – Anabela Angelovska
KAMERA – Betty Herzner
TON – Petar Jovanovski
MONTAGE – Imke Koseck, Anabela Angelovska
SCHNITTASSITENZ – Daniel Bending
SOUND DESIGN & MISCHUNG – Roman Vehlken
MUSIK – Sven Janetzko
ÜBERSETZUNG ENGLISCH – Michel Cavalier
UNTERTITEL & REDAKTIONELLE BERATUNG – Kirsten Herfel
GRAFIKDESIGN – Matthias Schmidt
ÖFFENTLICHKEITSARBEIT & SOCIAL MEDIA – Karla Stretz
DIGITAL LAB – Optical Art Digital & Film GmbH
INHOUSE PRODUCER – Optical Art, Jan Heuser
COLORIST – Optical Art, Jochen Hinrichs-Stöldt
MASTERING – Optical Art, Stefan Tänzler
PRODUKTION – Anabela Angelovska
NEWS
Presse
Riecks Film Kritiken: Kicking the Clouds, Tinashé, Haulout und Retreat
NDR: Die Berlinale startet: Norddeutsche Filme beim Festival
Berlinale Shorts: „Retreat“ / press
Berlinale Shorts: Anabela Angelovska on „Retreat“ / interview